Eine ewig lange Nacht des bangen Wartens für die letzten getreuen Scaccabaruzzen. Sie hatten sich vor dem Gewitter in eine der dunkelsten Ecken des Belarians zurückgezogen, wo sie verschwörerische Blicke austauschten, beratschlagten und stritten, wie nach Väterchen Gamuris Tod vorzugehen sei. Andere taten es nach ein paar Krügen dem Nachthimmel gleich und weinten bittere und zornige Tränen. Womöglich alles dahin! Alles dahin, wofür sie sich die letzten beiden Zehntage so inbrünstig eingesetzt hatten!
Dann, am nächsten Morgen, verwandelte die Morgensonne die Nässe der Nacht in Frühnebel. Überall dampfte es. Die Schwaden verflüchtigten sich nicht sofort, sondern sammelten und verdichteten sich zwischen den Häuserzeilen, legten sich über die Dächer und Schornsteine des Viertels, ließen Fensterscheiben schwitzen, überfluteten die Gassen wie ein zweites Meer. Nur für kurze Momente und schemenhaft gab dieser unwirkliche Ozean die Umrisse seiner entferntesten Inseln preis: Menschen, Karren, verfallene Fassaden. Stimmen, Wagenrattern, Möwenschreie, das Knarren der Taue und der Schiffe – alles dumpf wie aus weiter Ferne. Und da schnitt eine weitere Sirenenstimme durch den Nebel:
„Flammo lebt!“ „Flammo lebt!“
Der Ruf kam zu einem guten Zeitpunkt, gerade als die Fischer vom Auswerfen ihrer Netze zurückgekehrt waren. Manche Hafenbewohner legten die Arbeit zur Seite, andere fluchten nur, warfen böse Blicke, einige rannten zusammen, sammelten sich unter einem Balkon. Und als die Menge groß genug war, zeigte sich Väterchen Gamuri auf dem Balkon seinen Anhängern. Er war gezeichnet von den Vorfällen: gestützt von seinem Leibwächter, die blaublütigen-wässrigen Augen dunkel unterlaufen, das Wams aufgelöst und aufgerissen, das Hemd darunter blutverschmiert - so viel Blut, dass er wohl zehnmal davon verblutet wäre, immerhin hatten zwei Hühner für das höhere Ziel ihr Leben gelassen. Die Haare waren hingegen streng und ordentlich nach hinten frisiert, die Stimme kräftig und entschlossen:
"Riviner!""Man hat versucht, mich zu Fall zu bringen! Hinterrücks, tückisch, meuchlings und feig! Ein Anschlag auf meine Person, auf euch! Aber wir haben triumphiert!"Vor Väterchen Gamuri drängten sich die Augenpaare in die nebelverhangene Gasse, die gerade mal einem Esel mit eingezogenem Bauch Platz bot. Flammo trat näher an die Brüstung und zeigte mit zornig zitterndem Finger auf den imaginären Attentäter:
"Und wir werden gerechte Vergeltung üben! Ich sage: Wir lassen uns das nicht gefallen! Wir lassen uns nicht einschüchtern von feigen Straßenmördern! Mit erhobenem Haupte treten wir ihnen entgegen!" Ein sanftes Raunen ging durch die Menge, vereinzelte Sonnenstrahlen durchbrachen glitzernd die Nebeldecke.
"Drum sage ich: Sucht nach diesem dreimal verteufelten Halblingsweib, das mit ihren giftigen, verhetzerischen Fragen die Miliz, die starke zweite Hand im Hafen, Schützer der Ordnung und Sicherheit, in den Dreck zu ziehen versucht hat! Die mich deshalb, weil ich die Dienste der Miliz für unsere heilige Stadt gewürdigt habe, auslöschen wollte! Ihr habt sie gesehen! Zum Wohle unseres Viertels muss sie ihrer gerechten Strafe zugeführt werden! Helft der so löblichen, verlässlichen Hafenwacht dabei, helft der ebenso löblichen Miliz dabei, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird! Sucht sie!"Mit diesem „Sucht sie“, das wie ein Befehl aus der Hölle klang, drehte sich Väterchen Gamuri zackig um und verschwand ohne Ankündigung vom Balkon ins Innere. Ohne Zweifel erweckte der rasche Abgang und auch die kurz gehaltene Rede den Eindruck, dass genau jetzt die Zeit zum Handeln gekommen sei.
Obwohl die obligatorischen Jubelrufe seiner Anhänger nicht ausblieben, ließ Flammo die Bevölkerung doch verwirrt zurück. Von wem hatte er da gesprochen? Eine Halblingsdame? Nicht alle hatten im Trubel der Wahlreden eine solche gesehen. Einige hatten vielleicht die Fragen gehört, nicht aber die Fragestellerin gesehen. Die meisten waren froh, einen Blick auf die drei Kandidaten auf der Bühne erhascht zu haben. Manche meinten auch, sie wäre ohnehin sofort von Milizschergen aufgegriffen worden und würde also gar nicht mehr frei durch die Stadt laufen. Andererseits: so viele Halblingsdamen gab es in Rivin wiederum nicht – jede war also verdächtig, vor allem nach dem einen oder anderen Krug Grog.
Das eigentlich seltsame an der ganzen Geschichte war jedoch nicht die Hetze auf die ominöse Halblingsdame, sondern, dass jeder gespannt auf den Namen Sehveth gewartet hatte. Sie, die Hohepriesterin der Umberlee, war es doch, die am Vortage in aller Öffentlichkeit, auf der Bühne!, ihren Gegenkandidaten, Priesterin Elanor und Flammo, einen fürchterlichen Fluch angedroht hatte. Zu gut war der Bevölkerung noch im Gedächtnis geblieben, wie sie mit schwarzem Schaum vor dem Mund angekündigt hatte, dass sie die Lungen ihrer Gegner mit Salzwasser füllen und erbarmungslos ersticken würde. Wie sollte man so etwas vergessen?! Viele hielten es nur mehr für eine Frage der Zeit, bis man erst von Flammos Erstickungstod hören würde, dann von Elanors Schicksal, und dann das! Hatte Flammo nun einen Rückzieher gemacht? Wagte er es nicht, Sehveth den Vorfall anzulasten? Aus Angst, aus Kalkül? Oder steckte Sehveth am Ende doch nicht dahinter?
Jedenfalls war der Aufruf zur Jagd auf eine Halblingsdame doch eine willkomme Abwechslung und eine Ablenkung von der komplizierten Frage nach den dunklen Geschehnissen hinter dem Vorhang. Schließlich klang die Jagd auf eine Halblingsfrau um einiges leichter und gefahrenloser als die Jagd auf eine wild gewordene Hohepriesterin der Furienkönigin. Flammo hatte dem Volk die Möglichkeit und den Vorwand gegeben. Jeder Idiot konnte sich an der als Gerechtigkeit getarnten Hetzjagd beteiligen und sich dabei brüsten, ein stolzer Riviner Patriot zu sein. Er hatte ihnen den Freibrief und Gelegenheit gegeben, sich aktiv an der Verteidigung der Ordnung gegen die bösen Kräfte dieser Hindame (von der sich jeder sein eigenes Bild machte) zu beteiligen. Ob der Freibrief halten würde, was er verspricht? Flammos Worten nach zu urteilen würde sich zumindest die Miliz nicht für unschuldig zum Handkuss gekommene Hindamen einsetzen. Würde die Garde bzw. Hafenwacht vielleicht riskieren, eine Attentäterin zu schützen?
Die wenigen Halblinge, die sich in der Menschenmenge vor Flammos Bühne befunden hatten, verflüchtigten sich jedenfalls wie kleine Gespenster im Nebel des Gassengewirrs, bevor sich ihre Nachbarn an sie erinnerten.
_________________
Charaktere:
Flammo (inaktiv) - galanter, geschleckter Lackaffe, Cavalier und Stadtratskandidat
Lothlann (inaktiv) - anerkennungssüchtiger, sembischer Wirt und barocker Antiheld
Hier geht's zur Feuerlagune!