Rauvyl hatte auch nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er antworten würde. Eilistraee antwortete auch eher nie. Und selbst Lolth... Lolth antwortete nur, wenn Rauvyl eigentlich keine Antwort haben wollte.
Sie atmet tief durch... schließt die Augen... und bringt sich gedanklich an einen anderen Ort. Einen sicheren Ort. Einen Ort, den ihr niemals jemand nehmen kann.
Das Unterreich, Hammer 1294
Erneut saß sie auf dem kühlen, mit Moos bewachsenem Stein. Die Absolute Stille des Unterreiches umgab sie erneut. Stille... Dunkelheit. Es war wunderbar. Sie hatte sich einige Zeit genommen, sich wieder zu entspannen. Sich alleine zu entspannen. Nun war sie wieder ausgeglichener, tätschelte zufrieden ihren Dolch, und hüllte sich wieder in ihren Umhang. Es war an der Zeit, nachzudenken.
In jungen Jahren, als sie noch ein Mädchen war, hatte sie es herbeigesehnt, endlich eine großartige, prächtige Priesterin zu werden. Sklaven herumzuschubsen, ihnen Befehle zu geben, sie mit der Zunge eine Latrine reinigen zu lassen... das alles klang so unglaublich... lustig damals. Herrin über Leben und Tod über so viele Wesen zu sein... Sklaven, Diener, Kämpfer... Magier. Verwandte. Entfernte Verwandte. Verwandte, die es nicht offiziell waren, weil sie nur ihr Vater waren, der Vater ihrer Schwester, oder noch unwichtigeres. Drow in den Tod zu schicken, oder aus dem Tode zurückzuholen... oder in den Untot zu treiben. Ja, das alles klang sehr lustig, interessant... aufregend. Doch sie wurde älter... und sah, was dies alles wirklich bedeutete.
Sie hatte keine Scheu, jemanden zu töten. Sie hatte keine Scheu, jemanden zu demütigen, zu beleidigen, wie Dreck zu behandeln. Es belastete sie nicht. Warum sollte es auch? Nein, es war etwas anderes, was sie damals abschreckte. Verantwortung. Was, wenn man versagte? Was, wenn man der Göttin nicht gefällig war? Im Mittelpunkt des interesses zu stehen, hunderte von Augenpaaren, die nur darauf warteten, dass man einen Fehler machte... nur darauf warteten, dass man sich einen kleinen Fehltritt sich leistete, nur strauchelte oder stolperte... um dann daraus einen tiefen, tiefen Fall zu machen. Rauvyl war noch nie in ihrem Leben kleingeistig gewesen, hatte schon immer einen hellen Kopf bewiesen. Sie, das verwöhnte, dekadente Kindchen, von ihren Vetter verhätschelt und getätschelt... war erschreckt von der Verantwortung, die bald auf ihren Schultern liegen sollte. Es machte ihr Angst. Sie stellte sich damals vor, wie sie vor ihre Mutter trat, die kleine Adelige, die noch nicht den letzten, vielleicht gerade erst den Schritt zum erwachsenensein hinter sich gebracht hatte, und ihr verkündete "Mutter, ich werde doch keine Priesterin", es ihr direkt ins Gesicht sagend. Und die Strafe die sie für diese Worte erwartet hätte, die Strafe, die nichts daran geändert hätte, dass man sie dennoch in den Tempel geschickt hätte.
Und heute... heute, wo die Entscheidung fest stand, und sie keine Priesterin war... Heute, wo sie eine, nein, die beste Späherin war. Genau heute bereute sie, dass sie geflohen war vor der Verantwortung. Denn heute war sie es, die Verantwortung trug. Sie führte die Drow durch das Unterreich, an den Hakenschrecken vorbei... sie führte sie in das neue Versteck. Sie sprach mit den Menschen, bemühte sich, eine angenehme Zusammenarbeit zu erschaffen. Sie trug die Verantwortung. Nun trug sie sie. Doch sie war keine Priesterin.
Sie hatte den Spaß an sinnlosen Demütigungen verloren, denn in ihrer Zeit im Unterreich hatte sie sich nicht mit solchen Dingen aufhalten können... Effektivität war es, was zählte. Ein dreckiger Trick, ein schmutziges Geheimnis... wenn es galt, eine Latrine zu säubern, wozu sollte man die wenigen Sklaven, die man besaß, ewig lange daran sich aufhalten lassen? Gehörte so ein Verhalten zu einer echten Priesterin der Lolth... musste so etwas sein, um die Gunst Lolth zu erringen...? Oder war es viel mehr ein Anzeichen der Dekadenz der Kultur der Drow, die sie dazu trieb, jegliches Fitzelchen an Überlegenheit so weit auszureizen, wie es nur ging, den Unterlegenen ihre Unterlegenheit mit solch einer Klarheit unter die Nase zu reiben, dass sie ihre Herrin hassten... hassten und bewunderten für ihre Macht? Die Spinnenkönigin war grausam, gepriesen sei ihr Name... aber diese Grausamkeit, diese Dekadenz... musste man sie sinnlos verschwenden und anwenden an den Werkzeugen, die man noch benutzen wollte? Wenn dies die Grundvorrausetzung war, um eine Priesterin der Spinnenkönigin zu sein, dann... nein, dann hatte sie kein Interesse daran. Denn mit einem Zuckerpilz kam man oft genug viel weiter als mit einer Peitsche.
Andererseits... war es etwas, was man sich aussuchen konnte? Hilflos sah sie zur Decke hinauf, die dunkle, flache Decke. Keine Stalagtiten. Kein Tropfen von der Decke in den See. Absolutes Schweigen. Wenn Lolth irgendwo ihre Gedanken hören konnte, dann hier. Wenn Lolth irgendwo mit ihr sprechen würde, dann hier. Aber war es klug, mit ihr Kontakt aufzunehmen? War es möglich, dass sie sich nicht für Rauvyl interessierte bisher, aber wenn sie sie anrufen würde, mit dem Willen, dass sie sie anhören soll... Und wenn sie ihr wirklich gefrevelt hatte, sie beleidigt hatte, als sie das erste Angebot zur Priesterin abgelehnt hatte... auch wenn es nur vom Klerus, und nicht von Lolth selbst kam. Was wenn Lolth, wenn sie denn ihre Aufmerksamkeit auf die Späherin richtete, sie strafen würde für dieses Vergehen, wleches so lange her war, doch für eine Göttin doch erst gerade ebenwar? Oder interessierte es Lolth einen feuchten Dreck, was die Späherin tat und ließ? Oder war es gar ihr Wille gewesen, ihr Wunsch, dass sie erst ablehnte, und dann später, wenn sie reif genug war, es annehmen sollte? Rauvyl schwirrte der Kopf. Woher sollte sie es wissen? Woher sollte sie all dies wissen.
_________________ "Ich habe keine Angst davor zu bluten, aber ich würde es nicht für dich tun." Rauvyl Kent'tar
"Wenn ich keine Gerechtigkeit erfahre, erschaffe ich sie eben selbst." Dorn von Grauburg
"Die Materie der systematischen Analyse ist eher trivial und sei den Eleven als Exerzitium aufgetragen" Arianwyn Drachenzorn
"Blut und Tod" Amalafein Kent'tar
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