IX. (1/2) Von Siamorphes Herrlichkeit – Spektakel der Majestät Der Festkalender der Bauern in jenem Landstrich Sembias gab wahrlich nicht viel her. Grüngras, Mittsommer, Hochernte, das Erdenmutterfest und jeweils ein Dorffest im Jahr. Mit diesen kärglichen, über so viele Monde nur allzu dünn verstrichenen Terminen mussten auch die Traubensteiner Vorlieb nehmen. Die Feiertage für die unzähligen leidenden Heiligen beging man hier nicht. Sie wurden nur im Schatten der Küstenstädte, d.h. im Einflussbereich der dortigen Illmatari-Tempel, gefeiert, nicht aber in der entlegenen Herrschaft Traubenstein. Im Gegenzug hatte das alte Herkommen den Traubensteinern jedoch anderes Spektakel überliefert, den glänzendsten Tag in ihrem Jahr, das Fest ihrer Feste. Es war der Tag des "Grafenrittes".
Will man tiefer in die Vorstellungswelt der Traubensteiner eintauchen und etwas über den Grafenritt erfahren, muss man die ältesten Dorfherren nach ihren Erinnerungen an die Erzählungen ihrer Ururgroßeltern befragen. Der Grafenritt führt uns nämlich unzählige Jahrhunderte und Generationen in die Tiefen der Geschichte zurück. Damals, als das Land noch wild war und die sembische Küste jungfräulich, waren die Ahnen der Traubensteiner erstmals in diese Landstriche gezogen. Als Pioniere besiedelten diese freien Chondathaner die nördlichen Gefilde und machten sie urbahr.
Es waren aber auch Scheusale und Unholde, die die Pioniere mit immer größerer Missgunst beobachteten, und ihnen um das so mühselig von der Natur abgerungene Land neidig wurden. Wer diese Unholde waren? Die Antwort variiert, je nachdem, von wem man die Geschichte erzählt bekommt. Den geläufigsten Interpretationen zufolge waren es entweder Orkstämme, böse Naturgeister oder Elben. Alle drei Versionen wissen Dorfälteste auf das Scheußlichste mit Freveltaten der Unholde und Scheusale auszuschmücken. Jedenfalls mussten die Traubensteiner in einer Höhle in den Bergen Zuflucht suchen.
In dieser größten Not berieten sich die Vertriebenen und erhoben schließlich einen aus ihrer Mitte zum Anführer. Dieser primus inter pares trug den Namen Eldann Duarto, der "erste Traubensteiner". Er vereinte die Chondathaner gegen den gemeinsamen Feind und führte sie zu einem glanzvollen Sieg. Und nachdem die Traubensteiner viele Tage, manche sprechen von einigen Zehntagen bis hin zu einem ganzen Mond, in der Höhle um das Schicksel ihrer Recken gebangt hatten, war Eldann Duarto im Triumph mit seinen zwanzig Recken wiedergekehrt – bejubelt von allen in großer Erleichterung und Freude. Der erste Grafenritt! Und die Unholde waren auf ewig gebannt. Alleine der Name des ersten Traubensteiners ließ sie von da an aus Angst erschaudern und fliehen.
Wieviel an dieser Geschichte wahr ist, das ist für die Traubensteiner nicht von Belang. Alle glauben sie fest daran, dass die Linie des Grafen Eldon Hyacinth direkt zum mythischen Eldann Duarto zurückführt. Auch manche kleinere Familien der Gegend beanspruchten übrigens Abstammung von einem von Duartos zwanzig Kämpfern, um die sich jeweils eigene Legenden ranken. Nur die Niederhainer haben schlechte Karten, was mythisches Blut anbelangt, wurden sie doch erst später der Herrschaft Traubenstein einverleibt. Sie sind und bleiben für die Traubensteiner bis heute in gewisser Weise Außenseiter.
Anspielungen an die Haupttat des ersten Traubensteiners finden sich sehr zahlreich in der gesamten Herrschaft. In Zeiten großter Not flüstert man immer noch seinen Namen, und immer noch existieren einige Höhlen, von denen man sagt, sie wären die (einzige) echte Höhle, in die sich die Ur-Traubensteiner einst geflüchtet hatten, und wo sich auch der Grafenritt abgespielt hatte. Bis zum heutigen Tag entzünden die Bauern in diesen Höhlen kleine Lichter, um Wetterschäden und anderes, zum Teil sehr privates Unheil abzuwenden.
Dass sich die Rolle des primus inter pares über die Jahrhunderte hinweg zum Grafen und Herrn gewandelt hat, auch das tut dem großen Fest keinen Abbruch. Ja, vielleicht war der Grafenritt tatsächlich noch der letzte Überrest der Gleichrangigkeit. Denn der Grafenritt ist jenes Fest, an dem vor allem die Grafen ihren Untertanen die Ehre erwiesen. Das Volk verpflichtete den Grafen zum Grafenritt. Ihn ausfallen zu lassen, verärgerte die Traubensteiner nicht bloß – viel eher kam ein solches Versäumnis einem Bruch der Herrschaftsgrundlage gleich. Kurz: solange die Traubensteiner einmal jährlich ihren Grafenritt bekamen, deuchten sie sich, als hätten sie ihren Grafen wie dereinst Duarto aus ihrer Mitte emporgehoben. Bekamen sie ihn aber nicht, so würde sich der Traubensteiner Graf vom gerechten Anführer, durch dessen Adern das mythische Blut floss, zum ungerechten Tyrannen wandeln. Man würde dann gewiss einen lange verschollenen zweiten Nachkommen des Duarte finden, unter dessen Führung es den Tyrannen niederzuwerfen galt. So war das Fest des "Grafenrittes" also immer auch ein politischer Seismograph für das Verhältnis zwischen den Bauern und dem Herr.
Die Herren oder Patrizier von der Küste mochte diese merkwürdige Gepflogenheit der Traubensteiner wohl belächeln. Müssig auch zu berichten, dass auch der steife Kammerheizer Randal das Gleichmacherische an diesem Ritual gänzlich ablehnte. Denn auch er war von den Auffassungen der Küste geprägt, wo es klare, unüberwindbare Grenzen zwischen den Beherrschten und Beherrschern gab. Bauern und Herren – das waren für Randal zwei völlig verschiedenartige Kategorien. Ein Herr bedurfte nicht der Zustimmung des Pöbels. Und Randal trug das Seine dazu bei, auch seinem Knecht Lothlann keine dieser Flausen in den Kopf zu setzen, indem er vor ihm über die Hintergründe des Rituals schwieg. Bleibt nur die Frage, wie Graf Eldon Hyacinth selbst zum Grafenritt stand? Nun, er spielte zumindest mit und ließ sich nicht lumpen – mit wieviel Überzeugung er den Grafenritt beging, das sei dahin gestellt. Die Traubensteiner waren jedenfalls zufrieden mit ihm.
Der Grafenritt war also ein politisches Ereignis. Vor allem aber war er ein großes Spektakel. Von nah und fern, aus allen Ecken der Herrschaft waren an diesem Tag Untertanen angereist, um den wiederkehrenden Eldann willkommen zu heißen. Und obwohl beinahe der gesamte Vormittag mit Warterei am Wegesrand gefüllt war, wurde es keinem langweilig, schon gar nicht Lothlann.
Immer dichter und dichter drängten sich die Menschen um den Festweg vor dem Schloss: Hier bezog der zehnköpfige Rat aus Windberg Position, dort die aus Holenbrunn, gefolgt von Eschenschlag, und ja, auch Steinfurt hatte einen Vertreter geschickt. Selbstredend hatten sich alle Ratsherren möglichst prächtig ausstaffiert, schließlich galt es die eigene Gemeinde festlich zu vertreten! Die stattlichen Ratsherrenbäuche – sie stellten Reichtum und Würde der Besitzer am Besten unter Beweis – wurden durch schwere, teure Stoffe in Szene gesetzt. Stichelnde Blicke flogen hin und her. Galt die Konkurrenz der Pracht sonst stets den eigenen Kollegen, betätigten sich die Ratsherren heute im Mannschaftssport. Und es wurden schwere Geschütze aufgefahren: Ein Pelzsaum hier, Kehlmarder oder Rückenmarder? Die Handschuhe dort, Seide oder Leder? Die Delegation aus Eschenschlag trumpfte besonders auf, trat sie doch sogar mit einem Diener in Erscheinung, worüber besonders die Windberger ihre Nasen rümpften.
Die Delegationen der Orte hatten ein großes Publikum. Besonders das Städtchen Windberg war zahlreich vertreten, lag es doch in unmittelbarer Nähe zur gräflichen Residenz. Alles war auf den Beinen, ob groß oder klein, alt oder jung, arm oder wohlhabend. Kaum einer, der nicht durch Blütenschmuck und Festtagsgewand seinen Teil zur Zeremonie beitrug. Was die Ratsherrn im Großen waren, das waren die Handwerker und Bauern im Kleinen. Lothlann sah auch die prächtig bestickten, schweren Standarten der Windberger Zünfte, wie sie ganz träge im Winde wogten. Jeder wollte heute zeigen, was er hatte. Nicht zuletzt diente auch dieses Fest, wie alle anderen, als großer Heiratsmarkt.
Auch dauerte es nicht lange, bis die ersten ambulanten Händler den von Menschentrauben gesäumten Festweg abgingen – woher sie genau an dem Tag kamen? Das bleibt Geschäftsgeheimnis. Der Windberger Marktrichter war jedenfalls heillos überfordert. Zur Vermeidung allerlei Händel und Ablenkungen vom eigentlichen Anlass, sollte nämlich erst nach dem Einzug verkauft, gegessen und gesoffen werden dürfen. Nun, fassen wir es so: der Marktrichter bemühte sich zumindest einige Stunden redlich, bis man ihn schließlich bei einem Kelch Wein sitzen sah, um sich von den Strapazen zu erholen. Seine Helfer, die Marktbüttel, waren ihm bereits zuvor irgendwo in den Menschenmengen abhanden gekommen.
Handgreiflich wurde es indes nicht wegen des Weins, sondern aus anderen Gründen zwischen den Holenbrunner und den Eschenschlager Ratsherren. Die Holenbrunner sollen nämlich die eine oder andere Bemerkung über den Diener der Eschenschlager fallen lassen haben, vonwegen er sei bloß ein als Diener verkleideter Tischlergeselle aus Eschenschlag, woraufhin die Wogen hochgingen. Und als dann noch die Holenbrunner versuchten, sich einen Platz näher bei der Schlosspforte zu erdrängen, war es überhaupt um die Geduld der Eschenschlager geschehen. Randal beobachtete das Geschehen mit gewissen Amusement, schien er doch genau zu wissen, welcher Partei dem alten Herkommen gemäß der Vorrang gebührte. Alle um das Zentrum herum arrangiert, nach Rang und Qualität gegliedert. Das musste Randal wohl gefallen!
Die kleine Schlossgemeinschaft selbst ¬– Randal, Gretia, Gorlan, Lothlann und die anderen – durften übrigens einen Ehrenplatz einnehmen: Sie standen direkt beim Schlosstor. Denn das Gesinde zählte zum unmittelbaren Gefolge des Grafen, zu dessen "familia". Für sie war er nicht bloß politisches Oberhaupt, sondern auch der Hausvater. So fand sich also auch Lothlann in seinen Holzschuhen Seite an Seite neben den hochweisen Ratsherren wider. Gretia hatte ihn herausgeputzt, damit er kein allzu schlechtes Bild abgab. Entlaust und gewaschen, hatte sie ihm liebevoll einen Blätterkranz geflochten, den er an diesem Tag mit Stolz auf dem Kopf zur Schau trug.
Es versteht sich, dass der Einzug des Grafen für Lothlann ein opulentes Spektakel war. Nicht mit derartigen Menschenaufläufen vertraut, musste er erst verstehen lernen, dass das große Fest ihm erlaubte, sich an den Menschen ganz ungeniert satt zu sehen. Er durfte jeden Handwerker, Ratsherrn, jede Bauersfrau ansehen, so lange er wollte. Niemand konnte in dieser großen Masse erzürnen, ja es nicht einmal bemerken, wenn man ihn ansah. Für anonyme Blicke gab es keine Sanktionen. Also nutzte unser Protagonist die Gelegenheit, um möglichst viele Eindrücke aufzusaugen. Es war ihm ein großer Gabentisch. Er fand Gefallen an der Masse der fremden Gesichter, an den fremden Stimmen und an dem geschäftigen Treiben. Inmitten der Menschentrauben, als Teil eines Ganzen, fühlte sich Lothlann geborgen und beschirmt. Die Stunden verflogen ihm wie im Fluge, bis schließlich – die Mittagsstunde nahte bereits – eine gespannte Vorahnung sich im Publikum ausbreitete. Die Luft knisterte, und Lothlann spürte, dass sein Meister Randal, der sich vom bisherigen Treiben nicht sonderlich beeindrucken lassen hatte, nun immer nervöser wurde.
Dann erfüllte ein tiefes Donnergrollen aus einiger Ferne, aus Windberg, die Luft. [
Je lauter, desto besser das Erlebnis!] Eine Bewegung ging durch die Menge. Der Burggraf (d.h. der Schlossverwalter), erschien mit hektischen Schritten in überladener Montur vor dem Schlosstor. Ein zweiter Donner! Das Gewitter wurde lauter. Eine Naturgewalt rückte heran. Das Gemurmel ringsum wich zunächst einem Flüstern und verstummte schließlich ganz. Die Paukenschläge kamen näher und näher. Lothlann beugte sich vor um an den Spalier stehenden Untertanen vorbeizulinsen. In einiger Entfernung konnte er bereits einen Reiter sehen, dem sich die Umstehenden wie Kornähren im Wind zubeugten. Randal zog Lothlann an der Schulter zurück.
Nun verhallten die Trommeln für einige Augenblicke. Die Welt schien kurz still zu stehen, jedermann hielt den Atem an. Dann – ein Schrei, der die Stille durchschnitt und die Trommeln erneut zum Wirbeln brachte:
„Ecce! Excellentissimus et illustrisimus comes! Primus vestri!"
Dann ganz jäh die Pauken mit voller Gewalt in Crescendo! Er war schon ganz nah. Jeder Schlag drang nun urgewaltiger in die Herzen der Untertanen als der nächste. Alle ringsum erlebten den Puls der Macht, voller Gravität und Herrlichkeit. Der Destrier des Grafen schnaubte, stampfte und stieg zu den Schlägen. Das Erdreich erzitterte unter den Hufen. Es schallte durch die umliegenden Täler. Die Schläge durchdrangen die kleinen Bauerndörfer, die Felder, trockenen Wiesen und Wälder. Der Graf nahm von seinem Land Besitz. Es war ein erhebendes Gefühl, sogar für den kleinen Lothlann.
Ja, man konnte den Eindruck gewinnen, dass dieser reitende Herr die selbstbewusste Antwort der Menschen auf alle Götter war. Jeder Schlag war eine Herausforderung. Hier herrschten die Menschen! Hier herrschten die Sember, die Traubensteiner und ihre Ordnung. Und der Graf – er war ihr Gott – ein Gott, den die Menschen sich selbst geschaffen hatten. Niemand sonst wagte es, durch eine solche Lautstärke, einen solchen Auftritt die Aufmerksamkeit der höchsten Kräfte auf sich zu ziehen und ihnen so eisern die Stirn zu bieten. Er aber hatte keine Angst! Er musste den Vergleich nicht scheuen! Alle Zuschauer, ja wohl jeder Mensch, wäre er dabei gewesen, wurden mit Bewunderung und Stolz erfüllt. Sie alle waren er. Und er war der Traubensteiner, der Nachfahre des Ersten.
Nun setzte der helle Klang der Schalmeien ein. Endlich war der Graf bei ihnen angekommen. Lothlann kniete mit den anderen nieder, als das übergroße Pferd vorüberschritt. Er konnte einige Blicke erhaschen. Der Herr, majestätisch, martialisch und aufrecht, glich ganz dem Portrait. Die Triller der Schalmeien fanden in den hunderten Locken des Grafen ihr Widerspiel. Seine schwere Löwenmähne schien zu leben, wie Wasserstürze umrahmten die Zottel das edle Antlitz. Darüber ein breitkrempiger Hut, mit überquellenden Federn besäumt. Der Graf erschien Lothlann als reitende, strahlende Festung, mit Mauern aus teurem, schwerem Stoff und undurchdringbaren Locken, und Zinnen aus Goldsaum und Federwerk.
Und hier, als er dem Grafen so nah war, begann Lothlann Randal vielleicht zum ersten Mal zu verstehen. Mit einem Mal sah auch Lothlann die Versprechungen der Ordnung, der Randal so sehr verfallen war. Keine Nebel und Hirngespinste – Es war alles wahr! Lothlann wollte sich bereitwillig in den Schutz des Grafen stellen, dieser reitenden Festung. Nun sah er das wahre Zentrum, die wahre Spitze der Welt. Kein Tyrann, sondern ein Herr. Sein Herr. Er herrschte gerecht und gütig, ihn wollte Lothlann anerkennen. Aus den adeligen Augen sprach grenzenlose Weisheit und Weltkenntnis, aber auch der Zorn des Gerechten. Gnade und Härte. Ohne Zweifel kannten diese Augen alle Höhen und Abgründe, alle Stärken und Schwächen der Menschen. Sie mussten schon so viel gesehen haben. Vor Lothlanns innerem Auge mutierte der Graf zum Löwen, der alle Tyrannen, die sein Kopf nur entwerfen konnte, mit einem einzigen Fingerzeig zu Boden zwang – dorthin, wo die Hufe den Staub aufwirbelten. Gorlan musste sich vor ihm auf den Boden werfen! Und Barthelme musste sich hinwerfen, bereuen, und weinen! Und Barthelme würde sich entschuldigen und ihn lieben!
Das Pferd des Grafen scheute einen Moment. Der Traubensteiner aber gebot ihm unbeirrt, lenkte es mit Ruhe, Kraft, und fester Hand auf den Weg zurück. In Lothlann keimte Hoffnung auf. Waren die Zeiten der Not, die Zeiten der Anpassung und Improvisation nun vorbei? Vermochte dieser Herr die Welt in ihre Fugen zu lenken. Mussten man nun vielleicht nicht mehr bloß so tun, als ob?
Lothlann erlebte den Festzug also mit weit aufgerissenen Augen und voll von tiefster Zustimmung mit. Auf den Grafen folgte die Familie, ebenfalls beritten. Lothlann bestaunte die Erscheinungen. Die Frauen, Gräfin Tessele Alaine und die junge Herrin Andalie Miri, waren über und über mit Spitzen und mit Perlen aus den Tiefen der inneren See angetan, wie sie seit jeher die mächtigen Semberinnen zierten. Sie fingen das Licht und sandten es wie kleine Sonnen hundertfach in alle Richtungen. Die Gräfin selbst war nun nicht gerade von großer Anmut, aber sie trug ein weises und fröhliches Glitzern in ihrem Blick. Mit den Frauen ritt auch der jüngere Sohn des Grafen, Estorn Veith, kaum älter als Lothlann. Während der Graf an der Spitze das Haubt leicht senkte, um beim Durchreiten der Ehrenpforte der Erdenmutter seinen Respekt zu erweisen, brach die Menge in Vivat-Rufe aus. Gleichzeitig ritt Randin Sixt, der älteste Sproß, vorüber und nickte hier und da aufmunternd in die Menge. Ihn bejubelte man ganz besonders, und man streute ihm Blumen auf den Weg. Denn man feierte damit seine Erfolge als Admiral der Flotille, die Saerloon zur Bekämpfung der Piraten und Thayaner ausgeschickt hatte. Als Kriegsbeute baumelte, für jedermann gut sichtbar, ein thayanischer Säbel von Randins Seite. Und später sollte ein Wagen folgen, der über und über mit thayanischen Beutestücken, Exotica von unschätzbarem Wert, beladen war.
Dann kam der weise Mann der Deneir geritten. Er war Gelehrter, Übersetzer, Sekretär und Berater des Grafens, sowie Lehrmeister der Sprößlinge. Ein ziemlich beleibter Mann war das, um dessen Gesicht sich zahlreiche Halswülste legten. Sein durch eng sitzende Augengläser fokussierter Blick erschien Lothlann sehr streng und tief. Gretia hatte Lothlann mit besorgtem Blick erzählt, dass dieser Mann von seinem Gott mit Gaben versehen worden war, die ihren und Lothlanns Geist bei Weitem übersteigen würden. Er solle nur stets achtgeben, dem Herrn alles recht zu tun und nicht anzuecken.
Dann die Kapelle. Zwei Heerpauker beritten vorne weg, die wild in die Trommeln schlugen – ein Wunder, dass sie nicht vom Pferd fielen! – dann die Schalmeien und zwei Fagottisten zufuß hinterher, alle in einheitlicher, rot-schwarzer Livree, in den Farben des Wappens derer von Traubenstein. Und dann die Kammerdiener und Kammerzofen! Und dann die anmutigen Gianntiah-Pastoralinnen, in langen, reinen und weißen Kleidern, die jungen voran, die älteren hernach! Und dann die etwa zwanzig Leibgardisten, Trabanten, wie auch Randal einst einer gewesen war, mit blitzenden Hellebarden und Brustpanzern. Volllstrecker der Gerechtigkeit! Vollstrecker Helms und Siamorphes, vereint in der Person des Grafen.
Mehr von dem feierlichen Zug konnte Lothlann von seiner Position aus nicht erspähen, denn der Zug hatte vor dem Schlosstor halt gemacht. Man sah, wie der Burggraf vor dem berittenen Grafen einige Worte sprach, und sich dann formvollendet verbeugte. Schließlich näherte er sich geduckt (aber anmutig!) seinem Herrn und übergab diesem einen großen, in der Sonne gleißenden Schlüssel. Der Graf neigte sein Haupt in Zufriedenheit, hielt den Schlüssel für jedermann sichtbar in die Höhe und gab schließlich seinem Pferd die Sporen, um das Schlosstor zu durchreiten.
Über viele von Lothlanns Eindrücken ließe sich an dieser Stelle noch berichten. Der erste Programmpunkt des Grafenritts war hiermit jedoch abgeschlossen. Sobald der gesamte Festzug in das Schloss eingezogen war, lockerten sich die Menschentrauben am Festweg allmählich auf, um nun – bis zum nächsten Programmpunkt – frei und individuell den Tag zu feiern. Von Windberg bis zur Schlossmauer wurde fröhlich getrunken, gegessen und gespielt. Welch ein Glück, dass der Grafenritt stets im Herbst, nach der Ernte, begangen wurde! Während Randal sich in Gesellschaft seiner Bauernwitwe prächtig unterhielt, lief Lothlann umher. Er war an diesem Tag ein unermüdlicher Sammler von Eindrücken aller Art. Doch als es schließlich zu dämmern begann, musste er eine fürchterliche Entdeckung machen. Zuerst sah er nur einen. Bald schon aber häuften sie sich...
[Bildmäßig fällt dieser Teil zeitbedingt nur ganz mickrig und skizzenhaft aus. Gretia, Randal und Lothlann erwarten den Grafen]
PS: Ich habe eine kleine Übersicht in den ersten Beitrag gestellt.